Archive for Dezember 2020

936

Dezember 31, 2020

Die Zeit dehnt sich aus

bis Seelenwunden heilen

zwischen den Tönen.

[Benjamin Moussay – Villefranque]

935

Dezember 31, 2020

Ununterbrochen

vom Aufgang zum Untergang

scheint uns die Sonne.

934

Dezember 31, 2020

Kleine Eidechse

gefunden, die anmutet

wie quicklebendig.

933

Dezember 31, 2020

Erst zwackt das linke,

dann tut das rechte Knie weh.

Schließlich Wadenkrampf.

932

Dezember 31, 2020

Vor mir die Corbières

wie ein schlafender Riese

fern im Morgenlicht.

931

Dezember 30, 2020

(La la la la la la la)

La la la la la

La la la la la la la

La la la la la

[Michael Kiwanuka – You Ain’t the Problem]

930

Dezember 30, 2020

Auf dem Weg zurück

läuft sie voraus, blickt zu uns

und hebt die Pfote.

929

Dezember 30, 2020

Bei großer Freude

tanzt sie mir auf zwei Beinen

staksend entgegen.

928

Dezember 29, 2020

Sie will aufs Sofa,

traut sich aber den Sprung nicht

und verschmäht Hilfe.

927

Dezember 29, 2020

Tiefe Traurigkeit

unter der Oberfläche

des flotten Tanzes.

[Paco de Lucia – Entre dos Aguas]

926

Dezember 29, 2020

Strauch mit Wurzelwerk

aus der Erde gerissen,

händisch zerkleinert.

925

Dezember 29, 2020

Ein laues Lüftchen

strömt mir im Bett entgegen.

Dein Lebensodem.

924

Dezember 28, 2020

Orange Dyane

mit „Nucléaire? Non merci!“

steht am Straßenrand.

923

Dezember 28, 2020

Wild-wirr geträumt

in frühen Morgenstunden.

Augen auf und weg!

922

Dezember 28, 2020

Die neuen Häuser

bejubeln meinen Einlauf

ins Dorf Villelongue.

921

Dezember 28, 2020

Die Welt ist noch da,

das größte Wunder und dann,

dass ich laufen kann.

920

Dezember 27, 2020

Forsche Rotkehlchen,

vier Steinhütten im Bergwald,

gelbes Autolicht.

[Les cabanes de Mataporc]

919

Dezember 26, 2020

Hinter den Albères:

Die hohen Haufenwolken

brennen lichterloh.

918

Dezember 26, 2020

Schnee? Puderzucker?

Das Massiv des Canigou

oder ein Stollen?

917

Dezember 26, 2020

Alle fünf Meter

guckt die Hündin hinter sich,

ob wir noch da sind.

916

Dezember 25, 2020

Wir treffen Alte,

die redefreudig sind und

Junge mit Masken.

915

Dezember 25, 2020

Eiskalt und sonnig.

Der Himmel blitzblank geputzt

von der Tramontane.

914

Dezember 24, 2020

Nina rast im Kreis

und fliegt über den Rasen

wie ein Wirbelwind.

913

Dezember 24, 2020

Vier Pfoten rutschen

den blanken Felsblock runter.

She has lost control.

912

Dezember 24, 2020

A l’aube je double

les éboueurs qui m’observent

avec des grands yeux.

911

Dezember 24, 2020

Im Morgengrauen

sachte gejoggt wegen Knie.

Canigou in clouds.

910

Dezember 23, 2020

Die Yorkshire-Hündin

will dauernd mit mir spielen,

gibt aber nichts her.

909

Dezember 23, 2020

Aus der Küche tönt

ein Brummen, Seufzen, Schluckauf.

Der Mann im Kühlschrank.

908

Dezember 22, 2020

Immer abwechselnd

lesen und Liebe machen

in der längsten Nacht.

907

Dezember 22, 2020

Wirf die Bälle hoch

und pflücke sie in der Luft.

Und wieder von vorn.

906

Dezember 22, 2020

Lebenserwartung

noch rund hundert Millionen.

In Atemzügen.

905

Dezember 22, 2020

Auf Rücken liegend,

die Glieder von mir gestreckt,

im Weltraum schwebend.

904

Dezember 21, 2020

Jeder Vogel muss

irgendwann raus aus seinem

Siebzehnsilbenkäf’sch.

Finalität

Dezember 21, 2020

Das Gefühl, dass sie

um mich herum sterben

wie die Fliegen

und dass mich

jeder neue Tod

immer mehr mitnimmt

und ich so dünnhäutig

werde, dass man von außen

in mich reinsehen kann.

903

Dezember 21, 2020

Der Maskenball jetzt

auch in der freien Natur.

Leben ist Schauspiel.

902

Dezember 21, 2020

Auf die Abtrennung

der Nabelschnur folgt der

Lebensfadenriss.

Laufen

Dezember 20, 2020

Die Geschichte vom Laufen. Laufen, um von etwas wegzukommen. Mit dem eigenen Körper das System Weißer Hirsch ausschwitzen, wegarbeiten, aus sich rauskriegen. Schritt für Schritt. Bis ich so schnell rennen konnte, dass ich aus mir rauslaufen würde. Der Körper sollte herhalten, um in einen Zustand zu kommen, der nur mir allein gehörte. Ganz vorn war der. Und da so schnell demmeln, dass ich nicht mehr erreichbar sein konnte von niemanden und nichts. Darum ging es.

[Ines Geipel – Mauerkinder, S. 93/94]

901

Dezember 20, 2020

Sie spielt Mikado

mit dem Plastikknochen vor

der Volvicflasche.

Musikrätsel

Dezember 20, 2020

tə tə tə: tə:

tə tə tə: tə:

tə tə tə: tə:

tə tə tə: tə:

900

Dezember 20, 2020

Nicht der Esel schreit,

die Alarmanlage schrillt.

Man nennt es Fortschritt.

899

Dezember 20, 2020

La vue s’élargit.

La pluie a cedé la place

au soleil timide.

898

Dezember 19, 2020

Seltsames Zittern.

Denke erst die Erde bebt.

Es sind die Schenkel!

897

Dezember 19, 2020

Zwölfhundert Km

im Verkehr mitgeschwommen

in Richtung Sonne.

896

Dezember 19, 2020

Um vier vor halb neun

steigt eine orange Kugel

links der A5 auf.

895

Dezember 19, 2020

Morgens geweckt von

Akkualarm des Tablets,

der klingt wie Windspiel.

Joni Mitchell – Favourite Colour

Dezember 18, 2020

I met a child a year ago

Whose eyes would never see.

She asked me with a timid smile,

„What colour is a tree?“

[lyrics, performance 1965]

894

Dezember 18, 2020

Öffne Klappläden:

Süßlicher Geruch in Luft.

Diesiger Morgen.

893

Dezember 18, 2020

Wach‘ zwar auch nachts auf

mit Melatonin, schlafe

aber wieder ein.

892

Dezember 17, 2020

Fünfzehn Minuten

die Sonne übers Gesicht

streichen gelassen.

891

Dezember 17, 2020

Der Eichhörnchenkopf

steckt in der Haselnussbar.

Nur der Schweif schaut raus.

890

Dezember 16, 2020

Cello und Klavier

anmutig melancholisch,

vornehm traut vereint.

[Anja Lechner, François Couturier – Vague / E la nave va (Anouhar Brahem) vom Album Lontano]

889

Dezember 16, 2020

Twenty-five faces,

seventeen rectangular,

eight three-sided points.

888

Dezember 16, 2020

Wenn man immer nur

mit dem Schlimmsten rechnet, dann

tritt es meist nicht ein.

887

Dezember 16, 2020

Ein Wellensittich

als Papagei-Finderlohn

kam nicht in Frage.

886

Dezember 15, 2020

Ein Wellensittich

ist uns mal zugeflogen

in den Siebzigern.

[via Klagefall und Ackerbau in Pankow]

885

Dezember 14, 2020

There is a flower

blossoming in the heavens.

This is how it sounds.

[Roger and Brian Eno – Spring Frost from Mixing Colours]

884

Dezember 14, 2020

Der Westerbach rauscht,

plätschert, gluckert, sprudelt, gluckst,

tost in Dunkelheit.

883

Dezember 14, 2020

Mittags von Berlin

mit dem Wagen nach Eschborn

der Sonne gefolgt.

882

Dezember 14, 2020

Auf den Paar-Selfies

von der Via Regia

strahlen wir vor Glück.

881

Dezember 13, 2020

Olivaer Platz.

Typ mit Hund raucht einen Joint.

Vater kriegt nichts mit.

880

Dezember 13, 2020

I hope they play you

your floating music when you

knock on heaven’s door.

[Robin Guthrie & Harold Budd – Perfect Fire]

879

Dezember 12, 2020

Open Air Peepshow

in dunklem Betonquader

als Gedenkkultur.

878

Dezember 11, 2020

Dobermann schnüffelt

unter dem Schurwollmantel

als ich vorbeigeh‘.

877

Dezember 11, 2020

Auf Friedrichstraße

älterer Typ mit Flip-Flops

in dicken Socken.

876

Dezember 10, 2020

Du bist echt arm dran,

wenn Geld in deinem Leben

nichts mehr bedeutet.

875

Dezember 10, 2020

Auf der Autobahn

Autobahn gehört und wie

es Single wurde.

874

Dezember 9, 2020

Weiß jemand wie man

umsonst ein WordPress-Blog auf

Facebook publiziert?

873

Dezember 9, 2020

Ein Grünfinkpaar trennt

emsig Kerne von Schalen

an Futtersäule.

872

Dezember 8, 2020

Straße leergefegt

als wär‘ Deutschland im Endspiel

der Fußball-WM.

871

Dezember 7, 2020

Years ago you said

I had stamina. A word

which was new for me.

870

Dezember 7, 2020

Braunes Eichhörnchen

rast Baum hoch, holt Haselnuss,

vergräbt sie. Repeat.

869

Dezember 6, 2020

Im Apfelbaum sitzt

mit Schwanz wackelnde Eichkatz

bis ich auftauche.

868

Dezember 6, 2020

Die zweite Dusche:

Auf den erhitzten Körper

prasseln Eisblöcke.

867

Dezember 6, 2020

Die Füße schmatzen

auf stark durchweichtem Boden,

der kaum Halt bietet.

866

Dezember 5, 2020

Zwei Paar Stieglitze

zwitschern ihr Liedchen auf dem

Purpur-Sonnenhut.

865

Dezember 5, 2020

Der Paketbote

klingelt, rennt die Treppe hoch,

wirft Päckchen vor Tür.

864

Dezember 4, 2020

As vulnerable

as a cellophane wrapper

on a pack‘ of cigs.

[Joni Mitchell on the state she was in when she wrote Blue]

Deux, trois pensées d’un jongleur

Dezember 4, 2020

Ich frage mich, ob ich besser oder schlechter jonglieren würde, wenn der nächste runtergefallene Ball mein Todesurteil wäre. Natürlich mit einer vorher definierten Mindestwurfzahl z. B. 300. Man muss dazu sagen, ich zähle die Würfe beim Jonglieren und zwar laut. Ich glaube, es würde keinen Unterschied machen. Beim Jonglieren ist man so im Jetzt da lauert die Gefahr hauptsächlich darin, dass man sich ablenken lässt, dass man anfängt, zu denken. Im Moment des Jonglierens würde das über einem schwebende Fallbeil nichts ändern. Während des Jonglierens würde ein Denken daran das Risiko zu versagen sogar eher vergrößern da man ja gerade im Automatismus, sozusagen auf Autopilot sein muss, um es zu schaffen. Da braucht man keine Zusatzmotivation.

Obwohl es sein könnte, dass ich vor Publikum fehlerfreier jongliere als ohne. Weil die Konzentration eine andere ist. Sich vor anderen zu blamieren ist einfach etwas anderes als dies vor sich selbst zu tun. Kann es sein, dass die Eitelkeit stärker ist als die Todesangst? Seltsamer Gedanke.

Ein Fehler, der mir oft passiert ist es, mich in Sicherheit zu wiegen. Sagen wir, ich habe mir 300 Würfe vorgenommen und ich habe 250 geschafft. Wenn ich jetzt anfange zu denken, dass ich schon fast am Ziel bin, der Rest ist ein Klacks, dann ist das der Beginn eines Abschweifens von den Objekten, die im Fokus stehen, den in der Luft fliegenden Bällen und rächt sich meist sofort. Oder ganz ähnlich, ich bin kurz vor dem Ziel und mache mir bewusst, dass ich fast da bin und es schaffen muss. Dann werde ich nervös und verkrampfe mich und mache einen Fehler. Entweder werfe ich zwei Bälle gegeneinander oder schaffe es nicht, einen Ball zu fangen weil z. B. die Würfe nach oben nicht senkrecht genug sind.

Ich kann es bis heute nicht fassen, dass ich noch mit über 35 jonglieren gelernt habe. Damals einfach aus einer schriftlichen Anleitung, erst mit zwei dann mit drei Bällen, schönen bunten Jonglierbällen, die super in der Hand liegen. Man muss es sich trauen, etwas üben und es kommt dann irgendwann. Es wird aber für mich immer ein Wunder bleiben. A propos Jonglierobjekte, habe ich das schon mal geschrieben im Blog? Ich glaube in Boston war es, da sahen wir einen Typen, der hat doch tatsächlich mit Toastern jongliert.

863

Dezember 4, 2020

Treffe trotz Tröpfelns

in Dämmerung Fußgänger,

Jogger und Radler.

862

Dezember 4, 2020

Der Regen lässt nach.

Der Morast lässt mich nicht los.

Der Boden ein Schwamm.

861

Dezember 3, 2020

Die Kunst, Figuren

anzufassen, zu schlagen,

zurechtzurücken.

860

Dezember 3, 2020

Einige Schritte

nach vorn. Dann Innehalten.

Trompetenträume.

[J. Peter Schwalm (& Arve Henriksen) – Raumzeit vom neuen Album Neuzeit]

859

Dezember 3, 2020

Die Inspektion

per Überweisung bezahlt.

Hier traut man sich noch.

858

Dezember 3, 2020

Sechzig Sekunden,

um die Welt zu erklären.

Eher zwei Minuten.

857

Dezember 3, 2020

Es riecht nach früher.

Der alte Mann im Büro

mit Fluppe im Mund.

856

Dezember 3, 2020

Auf der Treppe liegt

eine winzige Spitzmaus.

Sie ist mausetot.

855

Dezember 2, 2020

Schnatternde Gänse

im Formationsflug mit

Belgischem Kreisel.

854

Dezember 1, 2020

Ein Zuckerbäcker

hat die Natur über Nacht

schneeweiß gepudert!

853

Dezember 1, 2020

Welt und mich trennt

Bildschirm, der Anschein erweckt,

wahre Welt zu sein.