Wir waren am Samstag abend in der Nähe des Anhalter Bahnhofs, wo seit ein paar Jahren die Nachbildung des Tempodromzelts aus Beton steht: sie wird auch mit der Kathedrale von Brasília verglichen. Ende der Achtziger habe ich mal das Weltmusikkollektiv Dissidenten im Zelt gesehen, unweit von der Stelle residiert jetzt unsere Bundesangela. Das Tempodrom war mehr oder weniger ausverkauft, es war bestuhlt und ich habe 2700 Sitzplätze gezählt von denen etwa 2500 besetzt waren. Nur ganz innen nahe der Bühne waren die Ränge leer. Wir saßen ziemlich weit unten auf der Tribüne gegenüber der Bühne, recht weit weg aber wir hatten eine sehr gute Sicht. Es ging pünktlich um acht mit der Vorband los, den Namen habe ich vergessen. Sie hörten sich ungefähr so an wie man sich eine amerikanische Coldplay vorstellen würde, die weiche, beliebige Stimme des Sängers war nicht auszuhalten, der Gitarrist machte dick einen auf David Gilmore, die Band war insgesamt gar nicht so übel mit ganz guten instrumentellen Passagen aber die Songs waren untergründig schlecht, nicht Fisch, nicht Fleisch. Nach einer längeren Pause kamen gegen neun Wilco auf die Bühne. Was mich während des ganzen Konzerts faszinierte bzw. irritierte war das permanente Kommen und Gehen von Leuten, die entweder zu spät kamen, gerade mal wieder auf den Topf mussten, eine rauchen gingen oder sich ein bis vier Bierchen besorgten. Man kam sich vor wie mitten in einem Bienenstock. Wilco lieferten eine recht solide zweistündige Show ab, sie machten teilweise gehörig Lärm, der Gitarrenkrach am Ende jeden zweiten Stückes hatte etwas Pubertäres aber er schien den Musikern gut zu tun. Die großen Entdeckung des Abends war für mich der Gitarrist. So physisch habe ich selten einen Rockgitarristen seine Klampfe bearbeiten sehen. Sein Name ist Nels Cline und er hat auch in jeder Menge Avantgarde-Jazzbands gespielt, dass er schon 55 Jahre alt ist, konnte man ihm kaum ansehen. Bei den krachigen Passagen triezte er sein Instrument derartig brutal, dass sich die schnelle Auf- und Abbewegung der rechten Hand, die die Saiten anschlug, auf den Körper übertrug, der sich zeitweise derartig schüttelte, dass man das Gefühl hatte, der gute Mann würde gerade einen Stromschlag bekommen. Des weiteren hatte er zwei riesengroße Momente. Einmal bei dem neuen Lied Black Moon, einer ruhigen, stimmungsvollen Ballade, wo er die lap steel guitar spielt und Töne von einer überirdischen Schönheit erzeugt, die vor allem am Ende sehr stark an den schwebenden, ätherischen Sound eines Theremin erinnern.
Der andere Augenblick, in dem er im Mittelpunkt stand, zog sich einige Minuten hin. Es war sein Gitarrensolo in der Mitte von Impossible Germany, wo seine Gitarre anfangs sehr nach Carlos Santana klingt und er aber dann sein eigenes Ding durchzieht, gleichzeitig sehr virtuos und sehr eingängig. Natürlich war das Solo im Berliner Konzert noch besser und intensiver als in diesem Beispiel, das ich gefunden habe:
Das herausragende Stück des Abends war jedoch Art of Almost, der Opener des neuen Albums The Whole Love, der so klingt als würden Radiohead ein wildes Krautrock-Stück von Can spielen. Eine ganz phantastische Bandperformance, so viel jugendliche Frische und Spielfreude hätte ich dieser alten Americanacombo gar nicht mehr zugetraut.