Verlassen werden
In der Stadt der Liebenden
Ça valait le coup
[Terry Callier – Paris Blues (Jean-Jacques Milteau) von Lookin‘ Out, 2004]
Verlassen werden
In der Stadt der Liebenden
Ça valait le coup
[Terry Callier – Paris Blues (Jean-Jacques Milteau) von Lookin‘ Out, 2004]
In sich eingerollt
Als bellt sie in sich hinein
Yorkshire-Alpträume?
Sofort mittendrin
Töne tropfen vom Himmel
In meine Ohren
[Stéphane Kerecki & John Taylor – Gary von Patience, 2011]
Aneinander sanft
vorbeigleitende Autos
Les vacances commencent!
Auf Autopilot
Durch Frankreich. Soleil en face.
Entspannt. Hier und Jetzt.
Verloren gehen
In dieser Metropole
In dieser Stimme
[Bill Callahan – Lonely City]
Der Muskelkater
In beiden Oberschenkeln
Vom Sitzenbleiben
Blues auf LSD
Gitarrenexplosion
Zeitloses Jammen
[Quicksilver Messenger Service – Who Do You Love? (Pt. 1) von Happy Trails, 1969]
Spiegel überall
Mühlrad, Kaskade, Tränke
Nebelverhangen
Morgens bekomme ich gegen Ende meiner Yogaübung, dem Herabschauenden Hund, zum wiederholten Mal Nasenbluten, evtl. hängt es mit dem Blutdruck zusammen.
Zum Frühstück kann ich heute zwischen Rührei sowie ein- oder zweiseitig gebratenem Spiegelei wählen. Ich nehme sunny side up, was sich aufs Wetter bezogen als recht optimistisch herausstellen wird.
Draußen wird es nur langsam hell und die zum Hotel-Restaurant umgebaute Burg Schwarzenstein verfließt im Nebel.

Über einen Zubringerweg, der zum Teil in die falsche Richtung geht, erreiche ich den Rheinsteig, der durch die Weinberge verläuft. Ich höre Stimmen in einer osteuropäischen Sprache. Es wird schon früh im Weinberg gearbeitet, die hohe Luftfeuchtigkeit macht das Holz elastisch.
Hinter einem Gatter geht es den Mischwald hinauf. Plötzlich ein lautes Geräusch. Ein Reh rennt hinter mir im Affentempo über den Weg, ein Zweites folgt kurz danach. Ich sehe ihre makellos weißen Hinterteile, vom Waidmann Spiegel genannt, eilig davonspringen.
Bei dem trist-trüben Wetter macht sich bei mir eine gewisse Lustlosigkeit breit, die Schritte werden schwerer.
Plötzlich geht es rechts fast weglos steil den Waldabhang hinab. Ich komme im Kloster Marienthal an, wo draußen Sitzbänke stehen für eventuelle Feldgottesdienste. In der Kirche fällt eine sehr liebevoll arrangierte Krippenlandschaft auf, die unter dem Thema Wasser steht. Es bewegt sich ein bei jeder Umdrehung schnarrendes Mühlrad, das Wasser fließt über eine Leitung zur Viehtränke und ergießt sich über mehrere flache Steine.


Ich steige nun wieder auf steilen Pfaden hinaus aus dem Tal und komme auf matschigen Wegen im Wald zum abseits gelegenen Kloster Nothgott. Von dort geht es weiter durch den Wald zurück in die Weinberge. Oberhalb thront die immer noch von Benediktinerinnen bewirtschaftete Abtei St. Hildegard (von Bingen). Im gut frequentierten Klostercafé nehme ich meine Mittagsmahlzeit ein.



Auf dem nächsten Wegstück eröffnet sich ein schöner Blick runter nach Rüdesheim und zum Rhein mit der Rüdesheimer Aue, einer langgezogenen mit Bäumen bestandenen Insel. Auf der anderen Seite oben die St. Rochuskapelle in Bingen.

Ich gehe nun hinauf in Richtung des Niederwalddenkmals mit der passenderweise im Nebel verschwimmenden Germania. Die Inschrift von Wilhelm I., insbes. der letzte Teil, in dem künftige Geschlechter indirekt zur Nacheiferung der „Heldentaten“ des Krieges von 1870/71 aufgerufen werden, erscheint auch wenn er das natürlich 1877 nicht ahnen konnte, angesichts von zwei Weltkriegen mit vielen Millionen von Toten, die Deutschland später (mit) vom Zaun gebrochen hat, als nachgerade zynisch-prophetisch und man fragt sich schon, ob das hier noch so hingehört. Während der Denkmalseröffnung 1883 wurde übrigens auf Wilhelm I. ein Attentat von Anarchisten verübt, das fehlschlug.



Der Himmel zieht sich nun ganz zu, vom Mäuseturm von Bingen auf der anderen Rheinseite ist nichts zu sehen. Aber man kann die von unten herauftönenden Fahrgeräusche der Schiffe hören. Auf dem weiteren Weg komme ich an der Rossel vorbei, durch die man durchgehen kann. Es handelt sich um eine pseudomittelalterliche Turmruine von 1787.

Im Wald erwartet mich noch ein Wildgehege und dann versuche ich, den Abstieg links der Weinberge abzukürzen. Keine gute Idee, weil der Hang zum einen extrem steil ist und ich zum Zweiten keinen Weg am Waldrand finde, der zum Bahnhof runterführt. Ich muss also nochmal ein gutes Stück parallel zum Rhein in die falsche Richtung zum Assmannshäuser Höllenberg gehen, bevor ich den Stufenweg bergab antreten kann. Natürlich verpasse ich dadurch so gerade meine Bahn nach Frankfurt, auf jeden Fall ist meine wie immer sehr abwechslungsreiche Wanderung hier am Bahnhof von Assmannshausen zu Ende.


Hier ist die Übersicht meiner Taunusdurchquerung im Dezember 2025.
Abstieg zum Rheingau
Dachinspektion mit Kran
Riesling: Klimaschock
Nach einer erholsamen Nacht im Einzelzimmer auf schmaler Matratze, auf der ich mir wie ein Mönch vorkomme, frühstücke ich ausgiebig mit ein paar anderen Gästen im großen Frühstücksraum.
Ich verlasse Schlangenbad im Morgengrauen, mir fällt ein Gebäude auf, das den verlorenen Charme guter, alter Zeiten ausstrahlt. In der Auslage uralter Tünnef, der schon Patina angesetzt hat.

Obwohl der Rheinsteig wirklich vorbildlich markiert ist, schaffe ich es, mich schon beim Verlassen des Ortes minimal zu verlaufen. Der mit Heu gefüllte Metallesel ist einfach zu verführerisch. Die Kurgäste ritten früher, wenn es ihnen langweilig wurde auf dem Eselspfad nach Rauenthal, wo es Wein gab. Auch später passiert mir das nochmal, besonders herausfordernd sind vor allem leicht abschüssige Strecken, auf denen ich ins Träumen komme. Heute geht mich der Weg, ich bin endlich im Flow.

Während der Coronazeit haben wir einige Premiumwanderungen gemacht, u.a. auch die Rauenthaler Spange, der der Rheinsteig teilweise folgt. Ich sehe eine Schafherde und dann eine kleine Gruppe mit einem Schafbock, von dem ich nicht auf die Hörner genommen werden möchte.

So eine Solofernwanderung ist auch immer eine Begegung mit sich selbst, sinniere ich so vor mich hin, als ich den Kiedricher Turmberg erreiche. Hier wird fleißig in den Spalieren gearbeitet, es ist die Zeit des Rebschnitts. Der Turm selber ist leider geschlossen, warum bleibt offen. Ich treffe hier auch auf das erste Waldsofa auf der Wanderung, von denen heute noch viele folgen werden, denen ich aber noch widerstehen kann.

So ein urtümlicher, beschnittener Weinstock übt auf mich immer noch eine große Faszination aus.

Von hier oben hat man eine recht gute Aussicht. Ganz im Osten schemenhaft im Dunst die Frankfurter Skyline.

Es geht nun auf einem matschigen Pfad, der gegen Ende von umgefallenen Bäumen blockiert ist, zum Kloster Eberbach, wohin wir vor längerer Zeit mal einen Betriebsausflug gemacht haben. Es ist bekannt geworden durch die Verfilmung von Umberto Eco’s Der Name der Rose, ein Schinken, durch den ich mich damals etwas durchgequält habe. Im Klostershop, in dem mehr Verkäufer sind als Kunden, verkaufen sie Weine für über 100 Euro, das macht keine Lust zum Probieren, außerdem ist es noch zu früh, finde ich.
Draußen setze ich mich auf eine Bank an der Klostermauer und genieße mein deliziöses Frikadellenbrötchen vom Metzger in Kiedrich. Dabei beobachte ich einen Handwerker, der ganz alleine den Kran seines Kranwagens steuert und in der kleinen, quadratischen Stehkabine das Dach des Eingangsgebäudes gewissenhaft von oben von allen Seiten inspiziert. Ich frage mich, ob man das nicht einfacher mit einer Drohne machen könnte. Denn er scheint z.B. nicht die Regenrinnen zu säubern.


Als ich den großen Klosterkomplex verlasse, sehe ich ein Schild, das 14 km angibt zu meinem Ziel Johannisberg. Ich gucke auf die Uhr, es ist halb 2. Ich würde also einen Viererschnitt benötigen, um bei Einbruch der Dunkelheit anzukommen. Da ich körperlich heute gut aufgelegt bin, gebe ich Gas und schaffe in den nächsten 95 Minuten mit einer kleinen Pause einen Schnitt von 4,4 km. Es stellt sich dann außerdem raus, dass mein Weg deutlich kürzer ist. Ich komme an einer lustigen Eremitenhütte von 1900 vorbei, die es mir angetan hat.

Schon auf Oestricher Gemarkung gibt es einen Hochzeitswald mit knapp 100 Obstbäumen, für jedes Paar einen. Es senkt sich nun langsam der Nebel herab. Wegen der afrikanischen Schweinepest sind nun einige Gatter auf dem Weg, die ich öffne und brav wieder schließe. Ich befinde mich jetzt inmitten von Weinbergen, in einer Laube sitzt eine Gruppe, die vergorenen Rebensaft schlürft und den Geschichten des Weinführers lauscht.
Direkt vor mir Schloss Vollrads, wo Touristengruppen rumlaufen und ich in der Probierstube vier Rieslinge von der Hausherrin kredenzt bekomme. Bei den teureren Flaschen, deren Inhalt ca. ein halbes Jahr im großen Weinfass – kein neues Holz – verbracht hat, spüre ich ganz klar eine Petroleumnote, die wohl mit dem Klimawandel zu tun hat. Die stärkere Sonneneinstrahlung sorgt für weniger Säure und diesen etwas gewöhnungsbedürftigen Weingeschmack. Die fruchtig-frische Eleganz weicht zunehmend einem strengeren Aroma. Ich kaufe die zweitgünstigste Flasche, die nicht ganz so frisch wie die erste rüberkommt, aber dafür intensivere Aromen hat.

Es ist nun nicht mehr weit zu meiner Bleibe in Johannisberg. Der Hausherr „erwartet“ mich schon an der Ecke und ich beziehe mein großzügiges Zimmer mit Doppelbett und einer Flasche Sprudel. Das Speiselokal ist proppevoll, ich weiß nicht, wie die zwei Bedienungen nebst Hausherr, der die Getränke vorbereitet, es schaffen, alle zu ihrer Zufriedenheit zu bedienen. Ich sitze etwas abseits an einem Hochtisch hinter dem Stammtisch mit der alteingessenen Männerrunde, die fröhlich vor sich hin babbelt. Die Forelle ist ganz hervorragend, sehr knusprig gebraten und entgrätet, bis auf den Kopf esse ich sie komplett. Der Riesling dazu ist spritzig und hat genug Säure, wie es sich für ein Winzerhaus gehört.
Hier ist die Übersicht meiner Taunusdurchquerung im Dezember 2025.
Melodischer nie
Tödliche Überdosis
Völlig hilflos sein
[Hüsker Dü – Pink Turns to Blue von Zen Arcade, 1984]
Die Sonne kommt raus
Hier war der Borkenkäfer
Heimliche Küsse
Im riesigen Frühstücksraum, der Platz für an die 100 Leute bietet, nehmen wir zu sechst an verschiedenen Tischen verstreut unsere Morgenmahlzeit ein.
Draußen ist es knapp über null Grad und trocken, die Sonne blinzelt sogar hinter der Baumstämmen. Ich nehme den im Streichen verlaufenden Chaisenweg, der mich am Ende hinauf zum Kellerskopf (474 m) führt. Hier wird ein aus Holland stammendes Wegmarkierungssystem verwandt. Jeder Wegpunkt hat eine Nummer, man läuft quasi eine Nummernfolge ab, die man sich vorher von der Karte – meine Theorie, gesehen habe ich die nicht – abgeschrieben hat. So ähnlich wie die Speisenfolge im Restaurant.

Der Kellerskopf mit dem Aussichtsturm ist leider nicht zugänglich, da hier ein Restaurant residiert, dessen Pforten meistens geschlossen sind.

Das außerordentlich schöne Wetter heute gibt mir einen Kick. Ich sinniere über die verschiedenen Umstände, die Euphoriezustände beim Wandern auslösen können. Neben dem Tageslicht, dem man mindestens 8 Stunden ausgesetzt ist – hier gilt buchstäblich carpe diem – ist die frische, sauerstoffreiche Waldesluft sowie die körperliche Anstrengung zu nennen, die zur Ausschüttung körpereigener Drogen führen kann. Bei Fastenwanderungen kommt dann noch die Wirkung des Fastens hinzu, das Leichterwerden sowie die Schärfung der Sinne.

Die Wege sind heute fest und gehen oft schnurgeradeaus. Gerade, wenn es mal ein Stück leicht abwärts geht, besteht die Gefahr, sich in Sicherheit zu wiegen und einen Abzweig zu verpassen. Genau dieses Wohlgefühl, längere Zeit anstrengungslos vor mich hinzutrotten, ist bei mir inzwischen schon fast ein Indikator dafür, dass ich falsch bin, auf jeden Fall kontrolliere ich dann die Karten-App und muss dann ggf. meinen Weg nachkorrigieren.
In der Achteckhütte, in der es etwas streng riecht, ohne dass ich den Grund finde und die wegen der acht Wege so heißt, die sich hier kreuzen, mache ich eine Apfelpause.
Am Jagdhaus Platte, dem ein modernes Glasdach aufgesetzt wurde und das man für Feiern mieten kann, befindet sich ein großer Wanderparkplatz. Das Lokal daneben ist dann auch gerade wegen einer geschlossenen Gesellschaft geschlossen. Hier stoße ich auf den Rheinhöhenweg, den älteren Bruder des Rheinsteigs, der auch auf der rechten Rheinseite, aber weiter im Landesinnern verläuft.


Ich höre in der Ferne Motorsägengeräusche und es stellt sich raus, dass vor mir ein Trupp Waldarbeiter in orangen Warnwesten dicke Laubbäume fällt. Als ich rufe, meine ich erst zu hören, der Weg wäre gesperrt. Beim Nachfragen wird mir dann gesagt, ich könnte über die Stämme steigen, wenn es mir nichts ausmachen würde. Glück gehabt.
Als Nächstes komme ich kurz vor zwölf zur Eisernen Hand, der idealen und einzigen Einkehrmöglichkeit. Hier herrscht ganz schöner Trubel. Eine bestimmt dreißigköpfige Rentnerwandertruppe fällt ein. Seltsam, auf meinem Weg habe ich so gut wie keine Wanderseele getroffen. Ich genehmige mir Backfisch mit Pommes, höre mir das Gequatsche des Typen am Nebentisch mit seiner Freundin an und ziehe wieder von dannen.
Das Dach der heutigen Etappe ist die Hohe Wurzel auf 618 m. Hier sieht es schlimm aus. Vom Fichtenbestand ist nichts geblieben, die Trockenheit in den Jahren 2018-2022 hat zu einer explosionsartigen Vermehrung des Borkenkäfers geführt, der von den Bäumen nicht viel übrig gelassen hat.

Von hier geht es nur noch bergab und zwar zuerst nach Georgenbronn und dann nach Schlangenbad, wo ich auf den Rheinsteig stoße, dem ich in den nächsten beiden Tagen folgen werde.

In Schlangenbad checke ich kurz vor drei ins Hotel ein, dusche und lege mich eine halbe Stunde aufs Ohr. Anschließend mache ich einen Rundgang durch den recht toten Ort, der schon mal bessere Zeiten gesehen zu haben scheint. Es geht an der historischen Caféhalle vorbei und dann durch den Kurpark, ich passiere zwei Kliniken sowie das Schwimmbad Äskulaptherme. In Schlangenbad gibt es aufgrund des milden Klimas eine Population von ungefährlichen Äskulapnattern, die dem Ort den Namen gegeben haben. Am Schluss wandele ich noch über die Kussallee, wo angeblich früher die Männer ihren Angebeteten im Schutz der Hainbuchen einen oder mehrere Küsse versucht haben, zu entlocken


Hier ist die Übersicht meiner Taunusdurchquerung im Dezember 2025.
Ewiges Tröpfeln
Durch den Matsch in den Nebel
Männer, was wollt ihr?
Und auf geht es zur nächsten Wandertour, los von zuhause, einmal quer durch den Taunus bis nach Assmannshausen am Rhein, knappe 100 km in vier Tagen. Ich verlasse das Haus kurz nach halb neun, draußen tröpfelt es bereits leicht, das wird sich den ganzen Tag nicht ändern. Und trotzdem werde ich dank Regenjacke, die ich sogar offen lasse und Regenschirm, den ich am Nachmittag aufspanne, kaum nass.
Das erste Stück bis zur Tennishalle am Ortsrand von Neuenhain kenne ich, hier gehen wir öfter mit Kimba, der Berner Sennenhündin des Nachbarn spazieren, wenn wir die Mammolshainer Runde machen. Danach geht es den Berg rauf nach Neuenhain und dann weiter nach Altenhain. Von hier möchte ich schnellstmöglich nach Fischbach, was mir nicht gelingt, da ich mich an der Roten Mühle, einem Ausflugslokal, etwas verzettele. Ich treffe auf Unmengen von Hundebesitzern, die mit ihren Vierbeinern bei diesem trüben Wetter mit zweistelligen Temperaturen unterwegs sind. U.a. treffe ich auch auf eine Frau im mittleren Alter mit fünf Hunden, diesen Frauentypus scheint es überall zu geben.

Schließlich erreiche ich Fischbach, wo wir uns vor über 25 Jahren mal ein Haus angeguckt haben, glücklicherweise haben wir es nicht gekauft, hier gibt es nicht mal eine S-Bahnstation. Allerdings liegt Fischbach am Taunushöhenweg und am Europäischen Fernwanderweg E3, denen ich nun für anderthalb Tage bis Schlangenbad folgen werde.
Da es 11 Uhr ist und der örtliche Dönerladen gerade aufgemacht hat, leiste ich mir eine vegetarische Lahmacun mit einem Ayran und beobachte von einem Barhocker das Straßentreiben. Kurz nach mir kommen zwei Jungen im Grundschulalter rein, die vom Dönermann sofort als „Männer“ begrüßt werden. Ich muss in mich hineinschmunzeln. Der junge Dönermann erzählt noch davon, dass er unglaublich müde ist, was er darauf schiebt, dass er letzte Nacht elf Stunden bis halb elf – also kurz vor der Öffnung des Ladens – geschlafen hat.

Es geht nun aufwärts in den Wald zum 451 m hohen Staufen, die Stimmung, wenn man wohlwollend ist, zum Teil etwas mystisch wegen des Nebels, aber im Grunde ist es wirklich ein Mistwetter. Hier muss Mendelssohn einige seiner Musikstücke komponiert haben, zumindest insinuieren das zwei Gedenktafeln, die Ältere ist ziemlich verblichen.

Es eröffnet sich bald eine Aussicht auf Eppstein, die wegen des Wetters unspektakulär ausfällt. Hier steht der Ende des 19. Jahrhunderts vom Verschönerungsverein initiierte Kaisertempel, wo Wilhelm I., Friedrich III., Bismarck und Moltke hängen bzw. stehen, Wilhelm II. wird geflissentlich ignoriert.
In dem ehemaligen Ausflugslokal neben dem Tempel werden jetzt Portfolios gemanagt. Vor der Tür stehen Luxuswagen deutscher Premiumhersteller.


In Eppstein erhasche ich einen schönen Blick auf die Burg, nachdem sich mir vorher ein Junge im Grundschulalter in den Weg gestellt hat. Die Mütze seines Kumpels ist auf einem Baum eines Gartens hinter einer Mauer gelandet. Ich fische sie mit einem meiner Wanderstöcke herunter. Außerdem gönne ich mir in der Bäckerei einen großen Cappuccino mit einem leckeren Stück Gewürzkuchen. Der Bäcker verkauft u.a. auch Börek, auch er ist türkischer Herkunft, ohne Migranten liefe in Deutschland schon lange überhaupt nichts mehr.


Nun geht es wieder durch den Wald nach Wildsachsen, wo die evangelische Kirche eine Stelle für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ausschreibt. Ich bin etwas baff. Die Dorfkirche ist natürlich geschlossen.

Eine einsame Kuh im Nebel beäugt mich. Wir wissen wohl beide nicht so 100%ig, was wir hier gerade so treiben.

Kurz hinter dem Ort höre ich die Autobahn A3, die u.a. nach Köln führt, die ich bei Medenbach, das ich noch von der Raststätte kenne, wo ich früher öfter beim Trampen stand, unterquere. Ich zähle 51 Schritte.
Der Dauerregen und die milden Temperaturen haben dazu geführt, dass der Weg extrem weich und matschig ist, ich kämpfe mich parallel zur Autobahn durch den Morast, in den ich tief einsinke.

Gegen Einbruch der Dunkelheit erreiche ich mein Tagesziel Naurod, wo ich noch einen Einheimischen erschrecke, als ich plötzlich aus dem Wald auftauche. Die Pizzeria im Ort hat gerade um 17 Uhr aufgemacht und ich nehme dort meine Abendmahlzeit ein. Der Weg zu meiner Unterkunft, dem Wilhelm-Kempf-Haus auf der anderen Seite des Ortes im Wald, gestaltet sich abenteuerlich. Es ist stockdunkel und das Licht meiner Stirnlampe wird an den Regentropfen in der Luft reflektiert. Ich sehe ca. 1 Meter weit. Als ich den ausgedehnten Gebäudekomplex erreiche, muss ich erstmal den Eingang suchen, der natürlich wieder auf der anderen Seite ist. Hier habe ich eine kleine, schmucklose Kemenate. Das Haus wird vor allem für Tagungen genutzt und gehört dem Bistum Limburg. Ich bin rechtschaffen müde und lege mich nach der Dusche bald ins Bett.
Hier ist die Übersicht meiner Taunusdurchquerung im Dezember 2025.
Abends im Westen
Epiphanie in Rosa
Sonnenbemalung

Um sein Leben schrein
Hinterm Türspalt ein Lichtschein
Stehen bleibt keiner
Gitarren können
besänftigen, aufheulen,
Herzen durchbohren
[Chris & Carla – Long Slow River, 2007]
Morgens um halb sechs
Draußen Autobahnrauschen
Erstes Gezwitscher
zurückgeworfen
auf meinen eignen Körper
ganz in mir ruhend
Endloses Vorspiel
Perlende Tastenläufe
Eins mit dem Klavier
[Keith Jarrett – New Vienna Part VII, Live 2016]
Vor fünfzig Jahren
Ab Mauerhalbrund Endspurt
1000-Meter-Lauf
Überbordender
spiritueller Jazz aus
dem hohen Norden
[Jimi Tenor – Alice in Kumasi]
Lastkähne auf Rhein
Gegen Strömung in guter
Schrittgeschwindigkeit
Unglücklich wegen
gefühlter Nutzlosigkeit
Daran ansetzen
Über Autobahn
Nach Westen offene V’s
Zugvogelschwärme
Es sieht ganz so aus,
als könnte ich mir demnächst
ein Maßband kaufen.
Holzrahmen lädiert
Plexiglasscheibe unten
Eichkatzbar kaputt

Eine ganze Welt
Verborgen in diesem Stück
Eine schöne Welt
[Bark Psychosis – Shapeshifting von Codename: Dustsucker, 2004]
Zum Runterkommen
Nach einem stressigen Tag
Follow the bass line
[Khruangbin – White Gloves ii]
Haselnussschale
mit viel Gefühl aufknacken,
so dass Nuss ganz bleibt
Stoisch fokussiert
trotz physischer Kontakte
den Liedtext singen
Das Leben ein Fest
mit traurigem Unterton
Vergiss die Lyrics
[Swell – Forget About Jesus von 41, 1994]
Ein Scheibchen Baguette
gibt es in der Kantine
für einen Euro
Weihnachtsgeschichten
Gogol, Baum, T. Mann, Dickens
Böll heiß diskutiert
Halbzwei aufgewacht
Körperbutter eingecremt
Weitergedämmert
Kilos zulegen,
damit ich sie dann wieder
runterfasten kann
Viel wachgelegen
Auf linker Seite gedöst
Der Sandmann war da!
Am Ende des Songs
Mitten im Paradies sein
Everything is new
[Kings of Convenience – Winning a Battle, Losing the War, 2000]
Stochernde Amsel
Wintermorgensonnenlicht
Knackiger Boden
Mucksmäuschenstille
Kraft, Würde, Erhabenheit
Sheng, noch nie gehört
[Claudio Monteverdi – Madrigals, Book 9: Si dolce è il tormento, perf. by Wu Wei, Stegner, Saksala]
Killing an Arab
Von der Sonne geblendet
Zum Tod verurteilt
[François Ozon – L’Etranger (Camus), 5 aus 5]
In Nachbars Garten
Krähe, Walnuss im Schnabel
Sie hoppelt davon
Morgenspaziergang
Mann bewirft Frau mit Schneeball
Kind steht daneben
Trip in das Land von
Liebe, Glaube und Hoffnung
Er ist schon mal vor
[Pharoah Sanders – Thembi, 1971]
Ein Trauerspiel mit
sechsunddreißig Darstellern
Die Hauptperson fort
[Jon Savage – Sengendes Licht, die Sonne und alles andere. Die Geschichte von Joy Division]
Gassi im Dunkeln
Kimba nach Knall in Ferne
Angsthasengalopp
Stündlich aufgewacht
Immer wieder eingepennt
Scheibe zugefrorn
Welten vereinen
zu etwas Transzendentem
In der Musik gehts
[Peter Gabriel – A Different Drum von Passion, 1989]
Rotkehlchen im Baum
Die ersten Töne morgens,
die letzten abends
Provokation
Warsaw zu Joy Division
Seinen Sound finden
[Joy Division – No Love Lost, 1978]
Novembersonntag
Sonne bricht durch: Blätter gefegt
Eimer Moos gekratzt
Auf rotem Handtuch
Weiße Zahnpastaflecken
Mir unerklärlich
Drei Finnen im Schloss
Subtiles Zusammenspiel
Finger gelockert
[Iiro Rantala, Kaisa Mäensivu, Morten Lund – Beautiful Love (Bill Evans)]
Quitten aus Dresden
Flaum abpoliert, zerkleinert
Ab in Entsafter
Oben im Himmel
Ätherische Wohlklänge
Engelschorgesang
[Lush – Lovelife von Split, 1994]
Achterbahnschlafen
Eine Nacht ein Murmeltier
Dann wie gerädert
Arbeitslunch zu acht
Leisesprecher, verständlich
nur für Nachbarin
Perlend, expressiv
Zeitlos frisch, unbekümmert
Das Piano strahlt
[Iiro Rantala – In a Sentimental Mood (Duke Ellington)]
Ich weiß nicht warum,
aber in diesem Klangbett
streck ich mich gern aus.
[Björn Meyer – Provenance, 2017]
Ingwertee abends
reinigt mein System, der Kopf
wird klarer, freier
Sie konnte es nicht
fassen, dass ich schon länger
über sechzig bin
Um 6 schellt Wecker
Dann 50 Atemzüge
à 12 Sekunden
Geflecht aus Rhythmen
In den Körper einfahrend
Hypnotischer Groove
[Simon Popp – Hain]
Die nächsten beiden Wanderungen stehen. Zumindest in meinem Kopf. Im Dezember vier Tage Taunusdurchquerung von zu Hause in Niederhöchstadt bis nach Assmannshausen am Rhein (ca. 85 km). Dort hatten mein Vater und ich vor 14 Jahren unsere knapp einwöchige Rheinsteigwanderung begonnen. Im Februar dann eine Woche auf dem Schinderhannespfad rund um den Taunus (ca. 190 km).
P.S. Sehe gerade, dass in der zweiten Februarhälfte ja die Berlinale ist, wie jedes Jahr. Ich glaube, das mit dem Schinderhannespfad wird schwierig. Vielleicht nehme ich ja den Jakobsweg von Berlin nach Bad Wilsnack (ca. 130 km), den kann man in 6 Tagen gut schaffen. Mal sehen.
Gimme those lyrics
Gimme that tune and that voice
Gimme that guitar
[Scout Niblett – No Scrubs (TLC), 2012]
Wenn er’s Hörgerät
rausnimmt und akustisch nicht
mehr erreichbar ist
Retro im Quadrat
Nach ner durchgetanzten Nacht
Geht die Sonne auf
[The Whitest Boy Alive – Golden Cage (Fred Falke Remix), 2008]
Anruf aus dem Nichts
Eigentlich mag ich sie ja
Direkte Frauen
Nach ein paar Tönen
wissen welche Band es ist
Vibraphonträume
[Tortoise – A Title Comes]
In einem Leben
für jeden US-Bürger
einen Atemzug
Nicht selbstverständlich
Schlüssel im Schloss umdrehen
Lichtschalter drücken