In der Dämmerung
Der Freiturm der Burg Kronberg
Von Mammolshain aus

In der Dämmerung
Der Freiturm der Burg Kronberg
Von Mammolshain aus

Frei schwebend im Raum
An Decke hängen Töne
Völlig absichtslos
[Jakob Bro, Lee Konitz et al. – Peninsula (von Taking Turns)]
Bauchfell schimmert weiß
Ex-innerdeutsche Grenze
Fuchs auf Wiesenhang!
Da war ich sieben
Wahrscheinlich das erste Lied,
das mich umhaute
[The Carpenters – Close to You]
Streicherteppiche
Musik für wunde Seelen
Black is beautiful
[Michael Kiwanuka – Floating Parade]
Im Schaumbad liegen
Schweißtropfen rinnen vom Kopf
rice milk, vanilla
Muskatnuss, Nelken
Geschmeidig, charakterfest
Salziges Lakritz

Mitten ins Herz treffen
In der Ruhe liegt die Kraft
Eine Band gibts auch
[Fleetwood Mac – Man of the World (Beat Club, 1969)]
Wie jede Faser
sich nach dem Ergometer
vollständig entspannt
Der einzige Song,
dessen Text ich auswendig
aufzusagen weiß
[Nick Drake – Road]
Rotes Eichhörnchen
Drei Krallen in der Nussbar,
eine außerhalb
Sinistrer Einstieg
Totenglocken zum Abschied
Himmlische Streicher
[The Smiths – Last Night I Dreamt That Somebody Loved Me (more)]
Die alte Frau sucht
vor der Supermarktkasse
Dominosteine
Touch me deep inside
Suddenly change direction
Let the funk explode
[Nik Bärtsch’s Ronin – Modul 46 (orig. from Holon)]
Auf seiner Bude
Gemeinsam ganz still werden
Die Sehnsucht hören
[Eric Burdon & the Animals – Anything, danke Andi]
Rosinenklümpchen
auseinanderklamüsern
morgens im Müsli
Friseure, daran
scheiternd, Haare mit Schere
schön kurz zu schneiden
Ältere Männer,
die ganz plötzlich anfangen
mit der Genderei
Sich im Kreis drehen
Geist auf die Sprünge helfen
Zur Ruhe kommen
[Bill Evans – Peace Piece]
Der Hund schaut herab
Das Schlafanzugoberteil
gleitet hinunter
Wenn die Zeit still steht,
kann Momo den Zeit-Dieben
selbige stehlen
[Michael Ende – Momo]
Heuer gegangen
Zwei Elisabethpfade,
dann den Jakobsweg
Gegen das Stuhlbein
mit dem kleinen Zeh stoßen
Warten auf den Schmerz
Kaffeeautomat
Zwei Frauen im Dialog
Nicht stören wollen
Die Mischlingshündin
– ich sitze auf dem Sessel –
springt mir auf den Schoß
gras, à l’apogée
Pflaume, Kirsche, Brombeere
Alkoholbombe

Raus aus dem Iran
als alleinstehende Frau
mit einundvierzig
Mit Walen tanzen
Jung und alt gesellt sich gern
Am Lagerfeuer
[Tucker Zimmerman & Big Thief – Burial at Sea]
Zikadengesang
Die Erde atmet im Schlaf
In Mauerritzen
[nach Michael Endes Momo, geborgen aus dem Bücherschrank]
Ein vages Gefühl,
der Sog der leisen Töne,
die Welt verschwommen
[Lars Danielsson, Verneri Pohjola & John Parricelli – La Chanson d’Hélène (Philippe Sarde)]
Denn der Maulwurf
weiß ganz genau, warum er
immer tiefer gräbt
Bridget St John – Curl Your Toes]
Die Sonne geht auf
über Frankfurt, der Himmel
im Osten rosa

Lasst Waffen schweigen,
Soldaten auf Schlachtfeldern!
Hört diese Musik!
[Jakob Bro, Lee Konitz et al. – Aarhus]
Vacha – Geisa – Hünfeld – Fulda – Flieden – Bad Soden – Gelnhausen – Langendiebach – Bergen-Enkheim – Niederhöchstadt
Halsband leuchtet grün
Sie tapst durch die Nebelnacht
Augen funkeln gelb
Lampe schränkt Sicht ein
In der Luft reflektieren
Wasserkristalle
Gelbe Laubwälder
Mit 300 Sachen durch
Taunus im Nebel
[Rodolphe Burger – L’inattendu]
Die Becken streicheln
Über Tasten traumwandeln
Den Bass erfühlen
[Colin Vallon Trio – Mars]
Drei Küchenwecker
liegen in der Küche rum
Sie sucht den vierten
Gothic Synthiepop
Die Stimme kenne ich doch
The eighties are back
[Levin Goes Lightly – Numb]
Fensterblick zum Teich
Taube fliegt auf der Stelle
Krallen im Wasser
Bücher, Vehikel,
mit dem Geist vorzustoßen
in andre Sphären
Morgens aufgewacht
Die Sterbeglocken läuten
Bye, democracy
Die Sonne ist gerade über der A4 aufgegangen, als ich beginne, mich mit einigen anderen Gästen dem umfassenden Frühstücksbüffet zu widmen. Heute am Sonntag zum Ende meiner Wanderung scheint Helios den ganzen Tag über, der Nebel der letzten Woche ist wie verflogen.
Es dauert eine Weile bis ich nach dem Verlassen des Hotels um 8h45 meinen Tritt gefunden habe, die Bewegungen des linken Knies sind trotz der Kniebandage unrund, das Humpeln läuft nur langsam aus in einen flüssigen Gang.
Am Eingang von Höhenberg wird die Brüderstraße, die von Siegen bis Köln verläuft, zu einer Ahornallee. Linker Hand ein kleines Wäldchen, der letzte Zipfel Natur, bevor ich in die versiegelte Stadt eintauche. An der Hauswand gegenüber ein verquerer Graffitispruch.

In Höhenberg komme ich an jeder Menge Kneipen vorbei, wo der halbe Liter Kölsch für 2,20 zu bekommen ist. Hier vor Ort wird das Kölsch u. a. Biere von der 1830 gegründeten, ältesten noch heute in Köln produzierenden Brauerei der Gebrüder Sünner gebraut.

Weiter geht es an einem Industriedenkmal vorbei, dem Turboverdichter für die Sodaproduktion der Chemischen Fabrik Kalk, das ein Mann diskret von der Seite anpinkelt. Etwas später kreuzt ein Typ mit Palästinensertuch meinen Weg, der in sein Smartphone blickend wild gestikuliert und laut auf arabisch herumschreit, niemand beachtet ihn. Ich befinde mich hier in einem sozialen Brennpunktviertel.

Rechter Hand führen auf dieser Seite rundherum Treppenstufen herauf zur ehemaligen Kölnarena, der mit 20.000 Plätzen größten Veranstaltungshalle Deutschlands.

Es ist nun nicht mehr weit zu Vater Rhein, den ich auf der linken, der domabgewandten Seite recht einsam überquere.


Nahe der Domplatte treffe ich meine Eltern. Die Besichtigung des Doms gelingt aufgrund von Gottesdiensten nicht, es ist bis 13h nur der vordere Teil zugänglich.

Vor dem Dom steht eine originalgetreue Kopie der auf den Türmen angebrachten Kreuzblumen, die immerhin fast 10 Meter hoch sind.

Stattdessen trinken wir Kaffee und gucken uns eine der zwölf romanischen Kirchen Kölns an, die den meisten Kölnern ja sowieso mehr am Herzen liegen als der Dom. Es ist die Dominikanerkirche St. Andreas.

Hier liegt Albertus Magnus in einem Steinsarg in der Krypta. Elf Kirchenfenster wurden von Markus Lüpertz neu gestaltet. Unter anderem das Josephfenster links am Eingang, das den Zimmermann, der in der rechten Hand sein Werkzeug, die Säge trägt, zeigt.

Nach einer Mittagsmahlzeit draußen am Wallrafplatz gegenüber dem WDR-Funkhaus machen wir uns auf den Weg nach Moers.
Hier ist der Etappenüberblick der gesamten Wanderung.
Nach einem servierten Standardfrühstück, das ich komplett verputze, mache ich mich gegen neun bei bedecktem Himmel auf. Das trübe Wetter hat gehalten, aber Regen bekomme ich glücklicherweise auch heute wieder nicht ab. Die Füße sind etwas schwergängig nach der langen Etappe gestern, außerdem laufe ich im ersten Teil viel auf der asphaltierten Straße oder auf den noch härteren Bodenplatten des Bürgersteigs, was meinen Gelenken und Füßen gar nicht behagt.
Es geht die Brüderstraße hinab ins Tal der Agger nach Overath, dem nach Siegen zweitgrößten Ort auf meiner Strecke.

Hier besichtige ich die geöffnrte katholische Kirche St. Walburga, eine recht große dreischiffige Pfeilerbasilika aus dem 12. Jahrhundert. Im Gäste- bzw. Fürbittenbuch ist der letzte Eintrag über ein halbes Jahr alt.

Ich zünde am Eingang mehrere Teelichter an und bin von der besinnlichen Stimmung angetan – ich bin allein in der Kirche – direkt vor einem Seitenaltar brennen viele unter- und nebeneinander aufgestellte Teelichter.

Abgekordelt links neben mir ein Seitenaltar, der mich mit seinen „Augen“ anzuschauen scheint.

Schließlich noch die modernen Kirchenfenster mit farbigen Segmenten, die mich etwas an die Gedächtniskirche in Berlin erinnern.

Nach einem kleinen Einkauf im Discounter geht es über die Bahngleise und die Bundesstraße an einem Reiterhof vorbei, wo mich die Frauen mit den Pferden an der Leine eine Weile in den Wald hinauf begleiten. Ich komme nach Heiligenhaus, wo ich in der Nähe des modernen Kirchengebäudes, aus dem Chorgesang schallt, eine Rast einlege.
Es geht nun wieder steil die Straße hinab zur Sülz, die ich bei Altenbrück überschreite. Hier gibt es einige alte Fachwerkhäuser, eines ist nun ein kostspieliges Restaurant.


Die moderne katholische Kirche in Untereschbach auf der anderen Seite der Sülz hat neben dem Pilgerstempel, eine Karte zu bieten mit den Anteilen der Katholiken in Deutschland, am höchsten ist der Anteil mit 77% in Passau.
Weiter geht es hinauf zum Königsforst, den ich komplett von Ost nach West auf knapp 10 km durchquere. Erst einmal mache ich meine Mittagspause in einer Schutzhütte. Die Wohltat, aus dem Schuhgefängnis auszubrechen und die Socken auszuziehen, ist unbeschreiblich.
Ich höre nun immer wieder die Schreie der in V-Formation fliegenden Kranichschwärme, die hoch oben in etwa in derselben Richtung wie ich nach Westen bzw. Südwesten unterwegs sind. Es sind tausende Vögel.

Im Wald treffe ich viele sehr schnell fahrende Sportradfahrer, einer warnt mich aus der Ferne und bedankt sich, als ich auf der rechten Seite bleibe. Außerdem sind natürlich sehr viele Hunde mit Herr- bzw. Frauchen unterwegs, häufig mit jungen Paaren, die sich statt eine Familie zu gründen, einen Hund angeschafft haben.
Ich komme nun nach Köln-Brück, ein gut erhaltener, vom Krieg wenig in Mitleidenschaft gezogener Stadtteil ganz im Osten mit einigen Fachwerkhäusern. Die Olpener Straße, der ich gen Westen folge, hat hier vierstellige Straßennummern, ein Phänomen, das ich eigentlich nur aus den USA kenne. Ich passiere den von Nord nach Süd verlaufenden Mauspfad, einen historischen Handelsweg.
Hinter Brück wird es ungemütlicher, ich gehe durch Neubrück, ein Stadtrandgebiet mit Gewerbe, die Straße wird breiter, die Autos fahren schneller. Schließlich gehe ich unter der A4 durch nach links und erreiche bald mein Hotel.
Zu Abend essen tue ich heute in einem sehr gut frequentierten syrischen Lokal am Ende der Straße. Draußen unter einer Plane sitzen neben den Heizpilzen die Wasserpfeifenraucher, viele meist verschleierte Frauen. Ich bekomme innen einen Platz zugewiesen. Im ganzen Restaurant bin ich der einzige Biodeutsche (ich mag das Wort nicht, kenne aber kein besseres). Meine Mahlzeit besteht aus Fatusch (Salat mit Brotchips), Falafel und Ayran dazu. Alles sehr schön leicht.
Ich schlummere ein zu dem beruhigenden, gleichmäßigen Rauschen der Autobahn, als würde sich die Trommel der Waschmaschine im Nebenzimmer drehen.
Hier ist der Etappenüberblick der gesamten Wanderung.
Den Buggy schiebend
Baby um Brust gebunden
Glimmstengel paffend
Die Krähen krächzen
Die Autobahn rauscht dahin
Die Stöcke klackern
Eine junge Frau
antwortet auf mein „Morgen“
mit einem Lächeln
Wir sind um halb acht in der Gaststube, wo der Wirt uns das Frühstück vorbereitet. Er stellt uns noch schnell seine Hilfskraft vor, die mit Sack und Pack aus Luhansk flüchten musste und nach einer Odyssee über Charkiw, Kyjiw und Lviw im Bergischen Land angekommen ist. Ich bezahle und bin positiv überrascht: Es ist 30% günstiger als angekündigt.
Um 8h22 geht Hans‘ Bus nach Gummersbach, wo er umsteigt in den Zug nach Köln und dann in den ICE nach Berlin, insgesamt elf Stunden Fahrt, eine kleine Weltreise.
Ich gehe an der Wasserburg mit den vergitterten Gefängniszellen und der leider noch geschlossenen evangelischen Antoniuskirche vorbei, die als Ort der Stille und Einkehr gilt.

Es geht nun aus dem Ort heraus und ich komme auf die Brüderstraße, einen fast durchweg asphaltierten Höhenweg, der früher für den Handel genutzt wurde und dem ich den ganzen Tag 27 km lang folgen werde. In Eiershagen, das mehrmals Preise im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ gewonnen hat, starren mich die Rindviecher an, die angekündigten Fachwerkhausgiebel und Schieferfronten sehe ich im Vorübergehen nicht.

Es reiht sich hier ein Dorf an das andere, ich passiere heute über zehn Ortschaften, in Rölefeld steht eine Linde mit einer Hohlkrone, die durch Reifen flach gelegt wurde, die Kunst des geschnittenen Baumes, die „ars topiaria“ geht bis in die Antike zurück.

Menschen, meist Jogger, treffe ich auf meinem Weg nur vereinzelt, kein Wunder, dass hier in der abgelegenen Gegend eine psychiatrische Einrichtung steht.

In Oberbierenbach werde ich aus der Ferne Zeuge, wie ein Hütehund – evtl. ein Bordercollie – eine Lämmerherde mit Ziegen in ein Gatter treibt. Er legt sich flach auf die Wiese und lässt kein Tier entwischen.
Ich bin heute endlich im Flow, schaffe am Ende inklusive Pausen mit 27 km in etwas über 7 Stunden fast einen Viererschnitt. Man muss allerdings dazu sagen, dass der Weg gut befestigt ist, mehr oder weniger immer geradeaus geht, so dass Verlaufen fast unmöglich ist und es keine nennenswerten Steigungen gibt. Außerdem hat mir der Ruhetag gestern gut getan.

Die ev. Kirche in Drabenderhöhe ist eine schlicht gehaltene Dorfkirche mit Empore und Kassettendecke.

Am Ortsausgang mache ich auf einer Bank meine Mittagspause mit einem Wurst-Käse-Brötchen und lutsche zum Nachtisch zwei schwarze Schokostückchen.
Auf einer Bank oberhalb des Weges sitzt ein Wandergenosse, der den Feiertag nutzt, um in einer Tagesetappe zu einer Bekannten zu wandern, einen Tag dort zu bleiben und dann wieder zurück zu gehen. Er erzählt mir von einer Pilgerwanderung in der Nähe mit 40 km-Etappen.

Normalerweise hätte man von hier oben eine wunderschöne Aussicht über das Bergische Land bis zum Siebengebirge und bei klarer Sicht sogar bis zur Eifel. Leider gibt es heute vor allem Suppe zu sehen, der Nebel verdeckt die Sicht.

In Heckhaus erfrische ich mich an einem Radler, das ein Arbeitskollege, der hier wohnt und den ich später treffen werde, netterweise vor der Haustier deponiert hat.
Die evangelische Kirche in Federath beherbergt ein 3,5 m hohes Holzkreuz, das sogenannte Hofkreuz. An diesem Kreuz hängt kein Jesus. Stattdessen sind die Leidenswerkzeuge Hammer, Nägel, Essigschwamm, Geißel, Würfel, sein Gewand, die 30 Silberlinge des Judas sowie ein Kelch, in den Jesu Blut fließt, ins Holz geschnitzt.

Es geht jetzt auf den Endspurt zu meinem Etappenziel, links auf der Telefonleitung sitzen Stare, die ich versuche, nicht aufzuscheuchen, Leonard Cohen lässt aus dem Off grüßen.

Zu Abend esse ich eine große Pizza mit Scampi und Knoblauch, die ich mit Kölsch runterspüle. Die drei Imbissbediensteten kommen aus dem kurdischen Teil Syriens, der gerade wieder von Erdogans Militär angegriffen wurde. Diese Schicksale brechen mir das Herz. Ich träume, dass alle Autokraten in einer Kapsel in den Weltraum geschossen werden und nie mehr zurückkommen.
Hier ist der Etappenüberblick der gesamten Wanderung.
Musk, Trump, Xi Jinping
Putin, Erdoğan, Orbán
mit SpaceX ins All
Heile Weltinsel
in einem Meer von Krieg und
Umweltzerstörung
[Laura Marling – Child of Mine]