Archive for 2. Dezember 2025

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Dezember 2, 2025

Kälte zwickt Augen

Im pechschwarzen Tiergarten

Radler ohne Licht

5070

Dezember 2, 2025

Jammersuada

Wie kann man so etwas nur

auswendig lernen?

[Oscar Wilde – De Profundis mit Jens Harzer im BE]

5069

Dezember 2, 2025

Eine ganze Welt

Verborgen in diesem Stück

Eine schöne Welt

[Bark Psychosis – Shapeshifting von Codename: Dustsucker, 2004]

Siddartha

Dezember 2, 2025

Ich würde so gerne etwas schreiben über das Buch, das mich in meinem Leben am meisten beeindruckt hat. Siddartha von Hermann Hesse. Ich hatte große Angst, es wieder zu lesen. Es muss im Sommer 1981 gewesen sein, als ich es entdeckt habe, ich war um die 18 und ich habe dieses dünne Buch in einem Rutsch runtergelesen. In Moers, draußen im Garten in der Sonne, wenn ich es recht erinnere. Übrigens das einzige Buch von Hesse, das mich jemals gepackt hat. Hesse wurde sonst immer von etwas älteren Hippie-Typen in der Schule während des Unterrichts unter der Schulbank gelesen.

Als ich das Büchlein vor ein paar Tagen wieder zur Hand genommen habe, war ich gleich positiv überrascht. Es hat mich ein zweites Mal sofort mitgenommen auf den Trip. Die Sprache war etwas gedrechselt, aber das war egal. Im Gegenteil, das hat dem Text sogar eine gewisse Aura gegeben. Was mich sehr bald frappiert hat und was ich nach 44 Jahren völlig vergessen hatte. Der Brahmane Siddartha und sein Freund Govinda, die sich beide den Samanas angeschlossen haben und den Asketenweg gehen, um leer zu werden, treffen Buddha, aber Siddartha geht weiter, während Govinda bei Buddha bleibt. Der Grund ist einfach. Siddartha interessiert sich nicht für Buddhas Lehre, er interessiert sich eher dafür, wie Buddha seine Erleuchtung gefunden hat, was jedoch im Buch nicht aufgelöst wird. Also verlässt er seinen Freund und Buddha und geht seinen eigenen Weg. Einen Weg, der zurück führt ins Leben, einen Weg der Praxis. Er verliebt sich in eine Kurtisane, die ihn in die Liebe einführt, sie bekommt nach einer Weile ein Kind von ihm. Er wird Kaufmann und genießt das Leben in vollen Zügen, ab einem gewissen Punkt ist er jedoch satt und durchschaut Sansara, den Kreislauf des Lebens, der ihn nie erfüllen wird. Dann wird er zum Fährmann, der den Fluss als Allegorie des Lebens betrachtet und mit ihm spricht. Ab da flacht das Buch ab und mein Interesse schwindet. Außerdem ist es gleichnishaft bzw. parabelhaft geschrieben, wenig konkret, recht abstrakt. Man merkt, dass es mehr ein Gedankenspiel ist, ihm keine reale Erfahrung zugrunde zu liegen scheint. Das hat mich damals nicht gestört. Siddartha kann nach seinen eigenen Worten nur drei Sachen. Warten, denken und fasten. Aber zum Fasten steht wenig in dem Buch, so ein faszinierendes Thema, aber Hesse lässt diesen Acker brach liegen. Er hat anscheinend nie gefastet. Zum Warten und Denken liest man auch kaum etwas. Dazu hatten später Samuel Beckett und Paul Auster – oder vorher Edgar Allen Poe – mehr zu sagen. Alles Kopfgeburten. Diese Inkonsequenz, Kerneigenschaften in den Raum zu werfen und dann in keinster Weise zu präzisieren bzw.  zum Leben zu erwecken, ist schon etwas ernüchternd.

Das Verrückte ist, dass ich mehr oder weniger ein Jahr nachdem ich das Buch gelesen habe, meinen Weg gegangen bin. Weg von den Büchern, der Theorie, dem inneren Widerstand gegen das „System“ hinaus in die offene Welt. Das Ziel war Indien, angekommen bin ich dort nie. Es musste sein. Und es hat so gut getan. Sich durchzukämpfen auf dem Rad. Auf dem Autoput in Jugoslawien und dann im gelobten Griechenland in diesem superheißen Sommer. Ohne funktionierende Gangschaltung. Der auf den Anstiegen in die Augen laufende Schweiß, das teuflisch in den Augen brennende Salz, der Stolz, nicht aufzugeben und abzusteigen. Jeden Morgen Feuer zu machen, von wenig zu leben, zu betteln. Für sich selbst verantwortlich zu sein, für Fehler einstehen zu müssen. Leute zu treffen, die ähnlich dachten. Frei zu sein. Jung zu sein. Naiv zu sein. Man selbst zu sein. Das Abenteuer zu suchen und zu finden. Und irgendwie ging es immer weiter, auch wenn die Lage zum Teil schwierig war. Ich will jetzt gar nicht auf Details eingehen, vielleicht später. Aber diese Geschichte, dieser lange Sommer von vier Monaten, hat mir ein unheimliches, inneres Selbstbewusstsein gegeben. Was ich vorher überhaupt nicht hatte. Vorher hatte ich nur die Arroganz des neunmalklugen Besserwissers. Keinem Lehrer zu folgen, war das Beste was ich machen konnte. Der beste Lehrer ist das Leben. Ganz einfach.