Archive for 21. Juni 2024

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Juni 21, 2024

Wenn der Diktator

dieses Lied hören würde,

statt Krieg zu führen…

[Robert Wyatt – Shipbuilding (Elvis Costello)]

Harzreise 20.6.24, 6. Tag Bad Harzburg – Brocken – Schierke

Juni 21, 2024

Grenzstein auf Staudamm
Kolonnenweg hochgeschwitzt
Felsbrocken hinab

Ein gutes, von der netten Pensionsbetreiberin vorbereitetes Frühstück mit Ei, grünem Tee, Holzbrettchen mit Aufschnitt und Käse sowie Sahnejoghurt mit Müsli erwartet mich nach einer erholsamen Nacht.

Draußen scheint die Sonne und ich gehe stracks durch den Kurpark zur Talstation der Burgbergseilbahn, wo die heutige Etappe beginnt.

Bad Harzburg, Burgbergseilbahnbasis

Hier geht es in den Wald, an einem Baumwipfelpfad vorbei, bei dem man sich schon fragt, ob er seine Umgebung verschönert. Er steht auf der Wiese im Kalten Tal, wo die Nazis mit 4000 SA-Leuten und dem Verband Stahlhelm 1931 einen Feldgottesdienst organisierten, um den Segen der Kirche für die geplante Abschaffung der Demokratie zu bekommen.

Bad Harzburg, Baumwipfelpfad

Ich komme auf dem ansteigenden Weg im schattigen Laubwald gut voran. Tafeln am Wegrand erklären die Baumwurzelarten als da sind Herzwurzler (die meisten Laubbäume, z. B. Buchen), Flachwurzler (z. B. Fichten) und Pfahlwurzler (z. B Kiefern, Lärchen und Eichen). An der Bushaltestelle des Molkenhauses – die erdgasbetriebenen Busse, genannt grüner Harzer, kommen hier fast überall hin – mache ich eine kurze Trinkpause. Ich komme nun zu einer großen Wiese mitten im Wald, die überquert werden muss.

Wiese oberhalb vom Molkenhaus

Nach dem vorherigen Anstieg geht es nun überraschenderweise erst einmal hinunter in das schmale Eckertal, das man wohl passender als Schlucht bezeichnen könnte. Am Talende geht es hinauf zur Eckertalsperre, die vor 1990 hälftig auf die beiden deutschen Staaten aufgeteilt war, was bis zu den bilateralen Verträgen Ende der 70er Jahre zu vielen Problemen bei der Nutzung führte. Ursprünglich wurde die Eckertalsperre 1943 fertiggestellt, um den zunehmenden Trinkwasserbedarf von Wolfsburg und Braunschweig zu stillen. Die Grenze verlief in der Mitte des Stausees und auf der Staudammmauer steht heute zur Erinnerung noch der alte Grenzstein.

Eckertalsperrenstaumauer, Ehemalige Grenze

Von hier hat man einen schönen Blick auf das heutige Wanderziel der Begierde, den Brocken mit dem Sendeturm. Aber bis dahin werden noch einige Tropfen Schweiß die Stirn hinunterrinnen.

Eckertalsperre mit Brocken im Hintergrund

Es geht nun auf dem Harzer Grenzweg, einem Teil des grünen Bandes, das der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze folgt, auf einem Kolonnenweg hinauf zum Brocken. Ich treffe hier auf sehr wenige Mountainbiker, die diesen steilen Aufstieg wagen. Die im Verlauf zunehmende Steigung beträgt im Schnitt 12 bis 15 Prozent, an einzelnen Stellen sogar bis zu 20 Grad, definitiv der anstrengendste Weg hinauf zum Brocken. Ein junger Mountainbiker überholt mich so gerade eben, Geschwindigkeit ca. 5 km/h und er muss zum Teil diagonal im Zickzack fahren, um hochzukommen. Ich überhole ihn dann wieder kurz vorm Kleinen Brocken, wo er auf einer Bank die weite Sicht aufs Umland genießt und sehe ihn nicht wieder.

Kolonnenweg zum Brocken

Auch Heine ist diesen Weg – damals natürlich noch ohne Platten – wohl rauf gegangen. Ich stoße nun auf den nach ihm benannten Weg, und zwar an der Stelle, wo sich für mich Auf- und Abstieg trennen werden. Er ging auf dem Rückweg vom Brocken über die Schneelöcher, heute Nationalpark, hinunter ins Ilsetal, wohin ich ihm morgen folgen werde.

Hermannchaussee, Heinrich Heine Weg

File under small pleasures of hiking: Je näher man dem Gipfel kommt, desto häufiger frischt der Wind auf und trocknet die nassgeschwitzten Klamotten und kühlt so den Körper. Was für eine Wohltat!

Kurz vor dem Kleinen Brocken überschreite ich die 1000 Metermarke, der Brocken ist jetzt in Griffweite, aber es sind noch 140 Höhenmeter.

Oben treffe ich auf Menschenmassen, die von ihrer Physis her zu urteilen, wahrscheinlich überwiegend mit der Brockenbahn hochgekommen sind. Ich nehme bis zum Bahnhof den Rundweg auf dem Brockenplateau, der heute weite Blicke in die Umgebung freigibt; ich hatte gelesen, dass es an über 300 Tagen im Jahr hier neblig ist. Oben am Bahnhof stehe ich bestimmt 15 Minuten an für eine Thüringer Rostbratwurst und ein Weißbier, das hier auch endlich wieder richtig heißt und nicht Hefeweizen wie in Westdeutschland außerhalb Bayerns.

Brocken, Blick nach Wernigerode

Da ich im Brockenhotel keinen Platz mehr gefunden habe, muss ich nun noch die 5,5 km nach Schierke absteigen. Das gestaltet sich als gar nicht so einfach, da der Wanderweg über große, rundliche Felsbrocken verläuft, wo man genau aufpassen muss, wo man hintritt, zum Teil muss man sogar die Hände zu Hilfe nehmen, um die Steine zu überwinden. Beim Einstieg kommt mir eine Gruppe von Jugendlichen mit geistigem Handicap mit ihren jungen Lehrerinnen entgegen. Sie zu einem Nachzügler: „Komm Gazelle, da vorne ist die Straße, Du hast es geschafft!“ Jetzt im Nachhinein, wo ich die über 3 km recht anspruchsvollen Felsenweg kenne, bin ich noch mehr voller Bewunderung, ob ihrer Leistung. Die Größe der Steine nimmt übrigens während des Abstiegs ab, das ist für mich angenehm.

Abstieg vom Brocken nach Schierke

Immer wieder hört man hier den langgezogenen Ton des Signalhorns bzw. das Schnaufen der Dampflok der Brockenbahn, deren Schmalspurgleise mehrfach überschritten werden. Passenderweise treffe ich gerade auf sie, als sie durch ein ausgedehntes Gebiet mit abgestorbenen Fichten fährt.

Brockenbahn im Fichtenfriedhof

Schließlich komme ich in Schierke an, wo das erste Hotel auf der linken Seite meins ist. Es ist etwas in die Jahre gekommen, strahlt aber auch einen gewissen Charme aus. Das Einbauduschbad erinnert mich etwas an ähnliche „Weltraumbäder“ in der Studentenstadt München-Freimann aus den Siebzigern. Schierke ist ein Wintersportort, der aber sicher auch schon bessere Zeiten gesehen hat.

Schierke, Hotel Brockenscheideck

P. S. Ich habe heute rund 100 Kilo ca. 1000 m hochgeschleppt. Wenn 1 Kilo einen Meter hochhieven 10 Joule entspricht, dann hätte ich eine physikalische Arbeit von 1000 Kilojoule geleistet. Wofür ich bestimmt 1000 Kilokalorien, also über 4.000 Kilojoule Nahrung aufnehmen musste. Der menschliche Körper ist gar nicht so ineffizient, aber der menschliche Geist kann Maschinen ersinnen mit noch vielfach höherem Wirkungsgrad. Zum Beispiel den Elektromotor.