Gefallne Blätter
Vom Wanderstock aufgespießt
Meine Copilger
Diese Nacht fünfeinhalb Stunden bis 4h30 durchgeschlafen, es wird langsam besser. Die Dusche mit alten Drehhähnen, mit denen man perfekt kaltes und heißes Wasser mischen kann. Ich lasse mir heute morgen Zeit, die Etappe ist ja nicht so lang. In der Barecke kann ich mir Wasser für grünen Tee kochen. Vorher gibt es Rhabarbersaft. Sozusagen English Breakfast für mich heute.
Ich ziehe kurz vor 9 los. Es ist knackig kalt, jetzt um den Gefrierpunkt, in der Nacht bis – 2, die Autoscheiben sind mit dickem Eis überzogen. Mir ins Gesicht scheint die Sonne, ideales Wanderwetter! Ein Mann mit einem lebhaften Deutsch Kurzhaar sagt mir, dass mich schöne Ausblicke vom Kamm, auf dem ich gehen werde, erwarten.
Kaum habe ich die letzten Häuser hinter mir gelassen, sehe ich auf dem Anstieg in den Wald vor mir zwei junge Rehe. Ich versuche mich anzupirschen, aber in ca. 100 m Entfernung nehmen sie Reißaus nach links ins Gebüsch. Es folgen noch zwei weitere Jungrehe.

Es geht weiter bergauf in Richtung Taufstein (461 m). Andere Wanderer treffe ich heute auf den 9 km bis Reichenbach nicht. Ich mache immer wieder Fotos, checke die Wander-App, lasse mir Zeit, genieße den Weg und die Aussicht.

Am Wegesrand wie auch schon gestern „Kunstwerke“ unter dem Rubrum Ars Natura, teilweise mehr, teilweise weniger gelungen. In einigen Fällen erkennt man das Kunstwerk nicht, weil es Natur ist, z. B. Baumstümpfe, drapierte Zweige etc. Recht originell und treffend fand ich die Baumsprüche.

Kurz vor Wollstein höre ich Vogelschreie über mir. Es ist eine kleine Schar von Wildgänsen, die nach Osten zieht. Die Rastbänke am Rande des Weges sind manchmal mehr und manchmal weniger einladend.

In unmittelbarer Nähe des Klosters Marienheide in Wollstein, das die „Schwestern von Bethlehem…“ beherbergt, überfliegt mich ein Militärhubschrauber in etwa 30 bis 40 m Höhe. In der Nähe des Aussichtspunkts mit Blick auf das einsam gelegene Kloster steht ein überdimensionales Metallkreuz auf der Wiese.

Als ich aus dem Wald herauskomme, blicke ich mich um und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Draußen in der Natur ist auch das beste Navi immer noch häufig völlig verloren.

Ich komme nun zum Grenzstein von Hessisch-Lichtenau, wo mir plötzlich bewusst wird, dass es mir insbesondere an den Händen friert. Die Sonne ist unter den Wolken verschwunden und der Wind ist eisig und weht heftig. Ich habe doch tatsächlich meine Handschuhe vergessen. Ich versuche es mit den Zweitsocken, aber das macht die Hände zu unbeweglich. Schließlich nehme ich den Stock unter die Achsel und tue die Hände in die Hosentaschen.

Auf dem Boden liegen plötzlich tausende von Hülsen auf dem Weg rum. Nach genauerem Hinschauen dämmert es mir. Es sind die Fruchtbecher von Bucheckern, die ich bestimmt seit 45 Jahren nicht mehr bewusst wahrgenommen habe.

Richtig ziehen tut es bei den großen Steinen, einem bizarr geformten Steinblock aus Dolomit.

Noch eines der für meine Begriffe interessanteren Werke aus der Reihe Ars Natura:

Ich komme nun in den Ort Reichenbach, der fast auf der Hälfte meiner heutigen Etappe liegt. Menschen treffe ich hier keine. In der ursprünglichen Klosterkirche, die 1207 von den örtlichen Grafen an den deutschen Orden verschenkt wurde und damit dessen erste bedeutende Niederlassung auf deutschem Gebiet war, zünde ich ein Teelicht an und stemple den Pilgerausweis. Hinter dem Altar sind Wandzeichnungen mit Bibelszenen.

Ich entdecke eine Seite mit Hinweisen und Ratschlägen zu einem guten und abgeklärten Leben. Ich glaube, das kann man fast alles auch als Nichtchrist bzw. sogar Nichtgläubiger unterschreiben. Den Text durchzieht eine große Demut, aber auch eine Würde und ein Pragmatismus.

Im Zentrum von Reichenbach stehen diese Milchkannen, ich hatte das Bild auch schon in meinem Führer gesehen.

Hinter Reichenbach geht es in den Wald auf zum Teil matschigen Wegen hinauf auf den mit 522 m höchsten Punkt der Etappe, den Schlossberg mit der Burgruine Reichenbach, deren Turm durch die Spende eines Reichenbachers überdacht werden konnte. Der Blick geht bis zum Hohen Meißner, bei dem mich mal wieder stutzig macht, dass er mit 753 m noch nicht mal so hoch ist wie „unser Hausberg“, der Altkönig.

Der Hohe Meißner gilt als die Heimat von Frau Holle aus dem Märchen der Gebrüder Grimm. So erklärt sich auch der Name der folgenden Skulptur. Man fragt sich, was die Dame da auf dem Kopf trägt, übliche Kopfhörer scheinen es nicht zu sein, evtl. Fernkopfhörer? Eventuell ist es andersherum und sie sendet nach außen. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Geweih. Oder ein gewölbter, am Hinterkopf befestigter Knochen. Fragen über Fragen.


Und vergesst mir bitte die Tiere im Wald nicht. Die wollen auch mal schlafen und äsen…

Bei der folgende Holzskulptur hatte ich geraten, dass sie eventuell Zungenkuss heißen könnte, aber dem war nicht so.

Am Ende der Wanderung sehe ich etwas Haariges auf dem Boden liegen. Es scheint kontraintuitiv zu sein, Haarkleid ausgerechnet im Winter abzuwerfen. Aber was verstehe ich schon von der Welt.

In Spangenberg komme ich schnell zu meiner Privatunterkunft mit sonnigem Zimmer im 2. Stock. Hier wird mir neben einer dem immer durstigen Wanderer natürlich sehr willkommenen Flasche Mineralwasser auch eine Flasche Flens offeriert.
Es hat sich übrigens bei mir nach dem Trinken von zwei Gläsern des Sprudels die Verdauung zurückgemeldet. Man glaubt nicht, was sich nach 5 Tagen Fasten noch so alles im Darm befindet. Auf jeden Fall werde ich morgen noch einmal um gut ein Pfund leichter auf die über 30 km lange Etappe nach Homberg/Efze gehen. 😉
Hier der Etappenüberblick über meine Fastenwanderung auf dem Elisabethpfad von Eisenach nach Marburg im Februar 2024.
Februar 14, 2024 um 00:05
Klasse beschrieben und bebildert! Mag ich sehr das.
Bei den Sockenfäustlingen musste ich lächeln *g* auch beim Zungenkuss; der Titel passt auch besser (finde ich) als Baumbuch. 😉
Februar 14, 2024 um 05:37
Vielen Dank! Als ich mir vorhin das Bild der Holzskulptur im Blog noch einmal angesehen habe, da fiel mir auf, dass da ja außerdem noch eine „echte“ Vereinigung stattzufinden scheint. Oder sind das meine erotischen Phantasien nach 5 Tagen Fasten?
Februar 15, 2024 um 17:41
*lach* ja, wobei, auch ein Zungenkuss ist für mich eine echte Vereinigung, der öffnet, wenn er denn einfließt alle Türen und Tore; ist sozusagen der Schlüssel für weiteres.
Die Natur ist für mich Erotikum pur … auch ohne fasten. 😉